Begriffe und Konzepte
Die primitivste Form der Wissenschaft war das bloße Aufzählen von tatsächlichen oder nur angenommenen Wahrheiten. Diese Form der Wissenschaft besteht noch in den Religionen und in Heilslehren aller Art fort.
Die am allgemeinsten anerkannte und geschätzte Methode bei der Vermittlung von Informationen und Wissen ist die sachliche Argumentation. Allerdings bewegt sich auch die Argumentation in den meisten Fällen in der irrealen Welt der Begriffe (oder des "Geistes").
Neuerdings kommen noch die wirklichkeitsnahen Abbilder der Dinge hinzu, Techniken, die in der Welt der Medien immer mehr verfeinert wurden.
Erkenntnis kann schon die Transformation von Sinneseindrücken in Denkvorgänge sein.
Wahre Erkenntnis wäre aber erst die Interpretation der Beobachtung auf eine solche Weise, dass sie auch von anderen als gültig anerkannt wird.
Das geschieht zwar überwiegend durch Begriffe, aber dieser Prozess kann möglicherweise ebenfalls durch moderne Medien erleichtert werden.
Die Lektüre von Lexika lässt allerdings immer wieder Zweifel aufkommen, ob die Versuche, Dinge zu definieren, wirklich zum Verständis beitragen. Beim Suchen in Lexika und im Internet werden umfassende Informationen erwartet; statt dessen werden dort massenhaft überflüssige Stichworte (Begriffe) mit schalen Erklärungen fabriziert.
Denk- und Definitionsprojekte führen regelmäßig zu einer Blüte des Gemeinplatzes. Selbst Wikipedia verwandelt sich zuweilen in eine Wüste der Terminologie.
Viele wissenschaftliche Kapazitäten verbreiten den Irrglauben und pflanzen ihn in die Köpfe ihrer Studenten, "dass ein benanntes Phänomen ein bekanntes Phänomen sei" [Stuart Firestein in: Brockman 2012].
Experten-Sprache bekundet Besitzansprüche [Illich 1979]. Mit Hilfe einer Fachterminologie versucht jeder Experte, in seinem Arbeitsgebiet Rechtsansprüche geltend zu machen. Daraus entwickelt sich so etwas wie eine Fachideologie.
Nur politische Experten haben sich auf die Argumentation mit alltäglichen Begriffen und Gegenständen spezialisiert.
Und wohl keine Gilde ist mehr bemüht, mit dem virtuosen Einsatz ganz gewöhnlicher Schlagworte die eigene Integrität und die eigenen Rechtsansprüche zu beweisen, als die der Politiker.
Eine fachspezifische oder mit exotischen Sprachen angereicherte Terminologie verschleiert möglicherweise nur das in Wahrheit geringe vorhandene Wissen, oder sie versucht, den Sinn (bzw. Unsinn) einer Aussage zu verbergen und dadurch Verständnis zu verhindern.
In der ärztlichen Praxis ersetzt Terminologie oft eine nur unvollständige (hastige) Untersuchung.
Wissenschaftliche Erkenntnis ist jenseits ihrer Begriffsinventariums oftmals sehr flach und gehaltlos und im schlimmsten Fall eine Fehlleitung.
Regelmäßig kann Ideologie als Wissenschaft ausgegeben werden, indem sie einen eingängigen und auch logischen Begriffs-Kanon einrichtet.
Nichtsdestotrotz ist die Wirklichkeitserfassung durch Begriffe (auch Phänomenalismus genannt) in der wissenschaftlichen Praxis die gebräuchlichste Methode.
Ihr steht die Ontologie als Wirklichkeitserfassung durch Erkenntnis gegenüber.
Hegel (1770 - 1831) soll seiner Philosophie eine uranfängliche Kraft des Geistes oder Begriffes zugrundegelegt haben, aus welcher sich erst die Natur als Antithese ableite [Austeda o.J.].
Der 'Signifikant' als der/die/das Bezeichnende und das 'Signifikat' als das Gemeinte sind Begriffe aus der Linguistik, die den Unterschied deutlich machen [Hörisch 2004].
Ein Text oder die begriffliche Argumentation sollten keine virtuellen Welten und damit allgemeine Verwirrung schaffen, sondern lediglich reagierend die Wirklichkeit zu erhellen versuchen.
In seinem Artikel "Konstruktivismus" bringt mich J. Hörisch durch einige Tatsachen allerdings zum Gegenteil meiner bisherigen Überzeugungen: Wenn man genau sein will, gibt es keine realen Entsprechungen für die menschliche Begriffswelt!
Zum Beispiel mag das 'Nichts' ein zentraler philosophischer und weltanschaulicher Begriff sein, dem 'Nichts' begegnen könnte man aber bestenfalls in den Weiten des Weltraums, nicht in der erstaunlichen Fülle des Erdsystems. Auch das Ende der menschlichen Existenz ist noch nicht das Nichts, sondern eher ein Fressen für die Würmer!
Andererseits existiert das Einhorn nur in der menschlichen Fantasie, daher könnte die Wirklichkeit sogar weniger komplex sein als wir sie uns vorstellen ...
Die gedankliche Konstruktion der Wirklichkeit muss in erster Linie intersubjektiv sein, also in soziologischer Hinsicht funktionieren [Hörisch 2004].
Auf diese Weise haben aber in der Vergangenheit Legenden als wissenschaftliche Dogmen funktioniert und noch im 20. und 21. Jh. Schauergeschichten als politische Tatsachen.
Zwar ist die Annahme, dass eine Theorie oder Erkenntnis nur als gesellschaftliche Interaktion entstehen kann, realitätsnah, noch präziser wäre jedoch die Überlegung, dass Theorien und Erkenntnisse, eben weil sie als gesellschaftliche Interaktion entstehen, niemals realitätsnah sein können.
Literaturangaben:
Franz Austeda: Wörterbuch der Philosophie. Berlin, o.J. (ca. 1970).
Ivan Illich u.a.: Entmündigung durch Experten - Zur Kritik der Dienstleistungsberufe. Reinbek, 1979.
Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke - Eine Handreichung zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer Risiken und Nebenwirkungen. Frankfurt/M., 2004.
Stuart Firestein: Das Namenspiel [in: John Brockman (Hg.): Was macht uns schlauer? - Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über neue Strategien, unser Wissen zu erweitern. Frankfurt, 2012.].
© Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 29.10.2020