Das Modell der Hierarchie
Gesellschaftliche Hierarchien mögen sinnvoll sein, solange sie besondere Qualitäten wiederspiegeln. Sie könnten im Idealfall sogar dem Ziel einer vielgliedrigen Differenzierung nahekommen.
Dagegen bedeutet die Autokratie sozusagen die Aufhebung aller Hierarchien, weil in ihr nur ein Wille von oben nach unten durchgesetzt wird.
Eine Hierarchie der Qualitäten würde dagegen eher von unten nach oben durchgesetzt.
Dem gemeinen Mann wurde immer schon vorgeworfen, verglichen mit den Fürsten und deren höheren Schutzmächten nichts besonderes zu sein. Hierarchien können nur dann funktionieren, wenn alle fest an sie glauben.
Wenn man in Wissenschaft und Kultur ein Monopol von privilegierten Eliten erkennt, wird auch ein verpöntes, irrationales gesellschaftliches Moment wieder rational: Das niedere Volk sieht sich durch wissenschaftliche und kulturelle Festsetzungen in seinen Grundrechten bedroht.
Auch die demokratische Version der Hierarchie könnte durch die kollektive Erfahrung entkräftet werden, dass sich offensichtlich nur Negativ-Qualitäten in der Hierarchie durchsetzen.
In Orwells "1984" vertritt das von Parteifunktionären gefälschte "Goldstein-Pamphlet" weit verbreitete sozialpolitische Leitmotive:
- Die oberen Schichten kämpfen um Privilegien und Herrschaft, die Unterschicht kämpft um Gleichheit.
- Schon in den Dreißiger Jahren sei soziale Gleichheit technologisch machbar gewesen, statt dessen setzte sich aber eine autoritäre und barbarische Geisteshaltung durch.
- Die neuen Oberschichten versuchten erstmals planvoll, ihre Privilegien auf ewige Zeiten zu erhalten. Zu diesem Zweck sorgten sie für technische Ausbildung und einen umfangreichen politischen Apparat.
[Orwell 1950]
Als einziger Garant der privilegierten Oligarchie wird im Roman allerdings noch der Kollektivismus angesehen, eine politische Doktrin, die in unserer Realität längst verworfen wurde. Und in Orwells Fiktion wird diese politische Theorie nur unters Volk gebracht, um sie als staatsfeindlich zu verfolgen.
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"Denken Sie von unten nach oben, nicht von oben nach unten" [Michael Shermer in: Brockman 2012].
Diese Empfehlung hat sicher vor allem aus empirischen Gründen ihre Berechtigung.
Der Autor begründet sie außerdem durch das Prinzip der Selbstorganisation, das sowohl den Lebensphänomenen als auch der Wirtschaft zugrunde liege. Damit klammert er die seit Epochen vorgebrachte Klage aus, dass Selbstorganisation ja wohl nur in einem goldenen Zeitalter stattgefunden haben könne.
Heute lässt man nicht einmal mehr die Selbstorganisation des Lebens zu, und dass eine Technokraten-Ökonomie irgendwo auf der Welt noch "selbstorganisierte, von unten nach oben gerichtete" Aktivitäten zulassen sollte, das kann doch nicht die rechte Gesinnung sein ...
Politische Systeme seien nicht das Ergebnis von Planung (etwa von geplanten 'coups d'etat'), sondern das Ergebnis der Handlungen vieler Einzelmenschen - da kommen uns die Tränen ...
Beispielsweise erlebe die Wissensproduktion dank Wikipedia zur Zeit eine radikale Wendung von der Abwärts- zur Aufwärtsrichtung. Das gesamte Internet sei Manifestation dieser Entwicklung.
[Michael Shermer in: Brockman 2012]
Es mag diese Innovations-Tendenz von unten nach oben geben, man hat aber immer wieder den Schwenk derer erlebt, die in irgendeiner Weise nach oben gekommen waren und sich sogleich gegen die unter sich wendeten.
Immerhin manifestiert sich auch Gewaltherrschaft oft von unten nach oben, auch wenn sie auf strikten Hierarchien beruht. Dieses Modell soll in den numinosen kriminellen Banden der 'outskirts' und Schwellenregionen wiederzufinden sein. Allerdings scheint die Gewaltherrschaft der Kriminalität durch repressive Regimes, Besitzverhältnisse und Produktionsbedingungen besonders provoziert zu werden.
Organisation ist nicht alles! Das Schlagwort "Organisation ist alles" gab aber nicht allein den Stand des Wissens vom Beginn des 20. Jahrhunderts wieder, sondern wird noch immer vehement umgesetzt. Die global vernetzte Moderne setzt allerdings weniger auf personalisierte als auf entpersönlichte Organisation und Hierarchien.
Doch die Theorie, dass "personalisierte, charismatische und clanbezogene Formen der Herrschaft" kennzeichnend für noch nicht arbeitsteilige und individualisierte Gesellschaften seien [Beichelt 2014], dürfte ein Vorurteil sein.
Die immer zahlreicher werdenden Demokraturen in Ost und West signalisieren, dass die personalisierte staatliche Willkür viele Anhänger mobilisieren kann.
Auch die Gesellschaftswissenschaften scheinen sich vornehmlich mit politischen Ordnungs- bzw. Herrschafts-Systemen zu befassen, weniger mit individuellen Beziehungssystemen und Vehaltensweisen. - Die letzteren sollen offenbar ausschließlich der pathologischen Psychologie überlassen werden ...
Es ist einigermaßen paradox, dass die menschlichen Interessen, die der Gesellschaft eigentlich zugrundeliegen, in den Gesellschaftswissenschaften ausgeklammert werden.
Nicht Wenige halten Herrschaft für den ureigenen Aufgabenbereich der Politologie! Sogar die größten Verbrecher berufen sich gerne auf staatswissenschaftliche Prinzipien.
Nach Gaetamo Mosca (1858 - 1941) gibt es eine herrschende Klasse ('classa politica'), die es versteht, sich mit 'politischen Formeln', also Schlagworten, zu rechtfertigen. Unerheblich, ob es sich um 'Führerprinzip' oder 'Diktatur des Proletariats' handelt, Ziel ist stets der Zusammenhalt der Gesellschaft im Sinne dieser Privilegierten. [in: Theimer 1985]
Autokraten sind heute zwar offiziell verpönt, man nennt sie nun jedoch einfach 'Führungspersönlichkeiten', ohne dass sich viel geändert hätte.
Die Komplexität des gesellschaftlichen 'Apparates' (als Partei- und Verwaltungsapparat, Unternehmensorganisation) verhüllt nur seine eigentliche Funktion als Herrschaftsinstrument.
Dass die Macht als Selbstzweck ihrem Ziel sehr nahe ist, zeigt der erbarmungswürdige Zustand von Umwelt und Gesellschaft weltweit.
Hinter dem als sozial ausgegebenen Apparat verbergen sich durchaus einzelne Nutznießer, wie man aus ihren Machtdemonstrationen (Fahrzeugpark, landschaftsfressende Zweck- und Protzbauten) ersehen kann. Wenn Sadisten und Verbrecher zur Sache kommen, machen sie ihren Mitmenschen im Allgemeinen klar, dass sie keine Wohltaten im Sinne haben.
Doch mit einer immer ausufernderen Technologie als Machtapparat wird auch deren Kontrolle immer schwieriger; zuletzt wird auch die Führungspersönlichkeit Sklave ihres Apparates.
Robert Michels (1876 - 1936) soll jedoch empirische Nachweise erbracht haben, dass Machtusurpation gerade von Parteigängern akzeptiert wird.
Beim Wahlverhalten in Demokratien erstaunt das Phänomen der ständigen Wiederwahl "autoritärer Naturen" (und Parteien). Die Masse wolle nichts anderes als die freiwillige Unterordnung als "Piedestal einer Oligarchie". [in: Theimer 1985]
Auch der monologisierende 'Große Bruder' in Orwells "1984" beschwört die Doktrin, dass die breite Masse es nicht ertrage, frei zu sein, sondern beherrscht werden w o l l e !
Einsichtsvoll scheint sie zu wissen, dass die M a c h t E i n z e l n e r der Endzweck sei.
Und Macht über andere Menschen zu haben, bestehe darin, diese leiden zu lassen. Aus Machtkalkül muss die Welt daher immer brutaler werden. Alle Freuden und Utopien sollen allein durch den Rausch der Macht ersetzt werden.
[Orwell 1950]
Der 'Große Bruder' O'Brien ist der bourgeois-bolschewistische Technokrat, die Inkarnation der Lüge, der Folter und der Negation. Und an diese Bestie wendet sich die Menschheit vertrauensvoll wie an den Onkel Doktor.
Man kann es als tröstlich empfinden, dass das alles nur ein Roman ist, in dem es um informelle Gewalt geht. Der 'Große Bruder' wird als gewalttätiger Charakter beschrieben. O'Brien lässt seine Opfer nicht nur unter entwürdigen Bedingungen leben und überwachen, sondern lässt es sich auch nicht nehmen, sie persönlich zu foltern und zu entmenschen!
Seine eigene Gleichsetzung mit der auf ewig herrschenden Partei ist eher Wahn. In Wirklichkeit waltet hier kein unpersönlicher Apparat, sondern der Diktator selbst.
Mit den Machthierarchien kommt die Drohung des Verrats. Nicht nur die Nummer Eins sieht sich überall von Verrätern umgeben, noch viel leichter wird die Bevölkerung Opfer des Verrats. Es geht dabei nicht nur um Sachzwänge und falsche Wahlversprechen - die Interessen der breiten Bevölkerung und der Parteigänger haben womöglich niemals eine Rolle gespielt!
Die Psychologie des Verrats spielt in Orwells "1984" eine zentrale Rolle. Seine Botschaft lautet, mit Hilfe vager Lockmittel und dem Druck direkter Gewalt kann jeder Mensch dazu getrieben werden, seine Mitmenschen zu verraten.
Dieser Verrat wird auch in auf Einkommens- und Technologie-Hierarchien aufgebauten Gesellschaften Jedem leicht gemacht.
Es liegt in der Natur der Hierarchie, dass ihre oberen Glieder ungleich viel mehr der unteren Glieder verraten und geschädigt haben als es den unteren Gliedern überhaupt möglich wäre.
Das größte Verbrechen, das Menschen an der Basis begehen können, ist daher, die machiavellistischen Fürsten an der Spitze zu unterstützen.
Literaturangaben:
George Orwell: 1984 - Ein utopischer Roman. Zürich, 1950 (22. Aufl., 1974).
Walter Theimer: Was ist Wissenschaft? Tübingen, 1985.
Michael Shermer: Denken Sie von unten nach oben, nicht von oben nach unten [in: John Brockman (Hg.): Was macht uns schlauer? - Die führenden Wissenschaftler unserer Zeit über neue Strategien, unser Wissen zu erweitern. Frankfurt, 2012.]
Timm Beichelt: Legitimer Autoritarismus? - Politische Stabilität im postsowjetischen Raum [in: osteuropa. 64. Jg., Heft 8. Berlin, 2014.]
© Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 26.2.2019; kleine Korrektur am 19.5.2020