Deutschland gegen die Evolution
Der einzig positive Aspekt des Buches ist, dass trotz seines reißerischen Titels vom zivilisatorischen Niedergang an zentraler Stelle einige Theorien zur Evolution interpretiert werden, auch wenn diese dadurch eine Diskreditierung erfahren sollten, etwa in dem Sinne, dass sie eher Theorien der Degeneration darstellten.
Leider sind bestenfalls diese Theorien von Interesse, aber nicht die weitergehenden Ausführungen des Autors ...
Ich will dennoch nicht versäumen, die von D. Weinich ausgewerteten und zitierten Quellen zur Evolution wiederzugeben:
# A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur - Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Wiesbaden, 1956.
# H.E. Kaiser: Das Abnorme in der Evolution. Leiden, 1970.
# H. von Ditfurth: Der Geist fiel nicht vom Himmel - Die Evolution unseres Bewusstseins. Hamburg, 1976.
# G. Siewing (Hg.): Evolution. Stuttgart/ New York, 1978.
# P. Hoff/ W. Miram: Evolution. Hannover, 1979.
# D.P. Barash: Soziobiologie und Verhalten. Berlin/ Hamburg, 1980.
# H.R. Maturana: Erkennen - Die Organisation und Verkörperung der Wirklichkeit. Braunschweig/ Wiesbaden, 1982.
# H.G. Marten: Sozialbiologismus - Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte. Frankfurt, 1983.
# I. Eibl-Eibesfeld: Die Biologie des menschlichen Verhaltens - Grundriss der Humanethologie. München/ Zürich, 1984.
# W.F. Gutmann: Die Evolution hydraulischer Konstruktionen - Organismische Wandlung statt altdarwinistischer Anpassung. Frankfurt, 1989.
Hinzu kommen die im deutschsprachigen Raum (und wohl nur in diesem!) besonders wichtigen naturwissenschaftlichen Autoren:
# Ludwig von Bertalanffy: Theoretische Biologie. Bern, 1951.
# " : General System Theory. New York, 1968.
# Konrad Lorenz: Über tierisches und menschliches Verhalten; 2 Bde.. München, 1965.
# " : Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. München/ Zürich, 1973.
# " : Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal der Menschen. München/ Zürich, 1978.
# " : Der Abbau des Menschlichen. München/ Zürich, 1983.
# Rupert Riedl: Biologie der Erkenntnis. Berlin/ Hamburg, 1979.
# " Evolution und Erkenntnis; 2. Aufl.. München, 1984.
Dabei steht Weinich dem Konzept der Evolution eigentlich feindselig gegenüber.
Umweltbedingungen auch infolge katastrophischer Geschehnisse als Ursache für das Aussterben von Arten werden von ihm sogar in Zweifel gezogen.
Darwins Konzept "von einem passiven Individuum, das hilflos der Selektion durch die Umwelt ausgesetzt ist", könne das Artensterben nicht erklären, denn "die aktiv gestaltende Rolle des Menschen" stehe in einem direktem Gegensatz zum "darwinistischen Denken" ("d. D."). [Weinich 1997, 2. Kap.]
Weinich strebt ein von der Umwelt abgetrenntes Evolutionskonzept an, das er anhand verschiedener Autoren zu bekräftigen sucht.
Das könnte die vom menschlichen Geist verursachte Katastrophe rechtfertigen, auch wenn sie auf diesen zurückschlägt.
Er hofft, dass der Mensch die schöpferische Potenz besitze, sich an plötzliche Veränderungen "langzeitlich konstanter Umweltbedingungen", die häufig zum Aussterben führen, anzupassen [Weinich 1997, Kap. 3.3] - zumal er diese Veränderung mit seiner halbakademischen ideologischen Konstruktion selber herbeiführt ...
Zu seinen komplett hanebüchenen Argumentationsketten gehören die folgenden:
Stabile Umweltbedingungen sollen den Genpool an rezessiven Genen, also den Heterozygotiegrad ausdünnen. Dieser Hypothese nach hätten 'lebende Fossilien' nur an Standorten mit konstanten Umweltbedingungen überdauern können. Als ein solcher Standort gilt die Tiefsee; auch hier scheint es aber eine normale Rate von Genmutationen zu geben. Damit sei eine enge Bindung des Genoms an eine stabile Umwelt mit Nischenbildung widerlegt. [Weinich 1997, Kap. 3.4]
In Wirklichkeit ist natürlich nur die Bindung der Mutationsraten an ökologische Nischen widerlegt, eine Kausalität, die überhaupt nicht hergestellt wurde. Außerdem existieren die 'lebenden Fossilien' der Tiefsee doch offensichtlich!
Er beruft sich auf Eibl-Eibesfeld 1984 mit der Behauptung, auch das menschliche Verhalten sei konstant und nicht milieuabhängig [Weinich 1997, Kap. 3.3]. Damit ist aber strukturell eher die menschliche Konstitution gemeint, die keinen extremen Veränderungen ausgesetzt werden sollte.
Die Argumentation, Massentierhaltung sei wegen der fehlenden Erfahrung natürlicher Lebensbedingungen der Tiere artgerecht [Weinich 1997, Kap. 3.3], entspringt weniger der Milieutheorie als dem eigenen Denken des Autors. Er vertritt ja auch die Auffassung, Darwin's Beobachtungen verhinderten selbstbestimmtes Handeln und Urteilen.
Die Instinkte der Leistungsträger
Als Quintessenz hinter diesen das Thema Niedergang nur selten berührenden Ausführungen steht offenbar die Befürchtung, dass der zivilisierte Mensch nicht nur nicht mehr mit den Anforderungen der Naturprozesse zurecht kommt, sondern noch weniger mit den Anforderungen der Kognitions- und Kontrollprozesse einer zivilisierten Welt.
Die vielleicht größte Angst des Autors ist das Chaos der Instinkte. Die Beschaulichkeit industrieller Versorgungssicherheit darf nicht durch eine darwin'sche Instinkt-Evolution in Frage gestellt werden.
Weinich befürchtet, dass das überkommene Instinktleben des Menschen ihn seiner "Kulturfähigkeit" beraubt, ohne dass "systemerhaltende Leistungsträger" etwas dagegen tun könnten [Weinich 1997, Kap. 3.2].
Da Instinkte aber schon früher da waren, kann der von ihm beschworene Niedergang nur politisch verstanden werden als Kontrollverlust jener Leistungsträger.
Die Minderwertigkeit des Menschen gegenüber den Naturkräften wurde schon von Arnold Gehlen als die Ursache der Kultur angesehen.
Möglicherweise ist aber nur die spezifische Kultur, die jene Leistungsträger konservieren, die Ursache dieser Minderwertigkeit.
Die Leistungen der Unzivilisierten waren keineswegs minderwertig, besonders, wenn man sie mit dem Tollhaus eines Brexit-Parlaments vergleicht; sie werden nur diskreditiert, um die eigene Leistung herauszustellen.
Gerade diese extrem deprimierende Lektüre beweist, dass Kultur und ihre Hervorbringungen keinesfalls immer die Lösung, sondern oft selber minderwertig und extrem schädlich sein kann.
Der Autor hofft, dass Evolution in darwin'schem Sinne und sein eigenes kleines Licht durch das selbst Erreichte, vielleicht auch dank bewusster, maximaler, eigener Anpassung angetrieben wird, oder bereits durch den Geist der 'Leistungsträger', denen man sich anpasst.
Weinich versucht, dem Prinzip der Zuchtauslese homogener Formen besondere Bedeutung zu geben und beschäftigt sich mit der Bewertung "gesunder" bzw. "degenerativer" Evolutionsprozesse [Weinich 1997, Kap. 3.3].
Dem steht beispielsweise das Problem entgegen, dass selbst die negative Bewertung kultureller Entwicklungen weit davon entfernt ist, einen positiven Einfluss auf diese auszuüben, besonders, wenn man so gemeingefährlich ist wie Detlef Weinich.
Quelle:
Detlef Weinich: Aussterben, Niedergang und Verfall - Der Zivilisationsprozeß aus biologisch-soziologischer Sicht. Dettelbach, 1997.
- Zur Frage
- Einleitung
- 1. Kapitel - Der Niedergang als Mythos
- 2. Kapitel - Die biologischen Ursachen von Aussterben und Niedergang
- 3. Kapitel - Die Konzepte der theoretischen Biologie
-- 3.1 - Die Zivilisationspathologie von Konrad Lorenz
-- 3.2 - Exkurs: Die Institutionenlehre Arnold Gehlens
-- 3.3 - Die Evolutionäre Erkenntnistheorie von Rupert Riedl und Gerhard Vollmer
-- 3.4 - Systemtheoretische Evolutionsmodelle
- 4. Kapitel - Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias
- 5. Kapitel - Der Niedergang der postmodernen Gesellschaft
© Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 2.1.2024