Imperium - Barbaren - Invasion


Germanische Völker unternahmen Heerzüge über Distanzen von mehreren tausend Kilometern von den Steppengebieten Osteuropas über den Balkan nach Westeuropa und sogar bis Nordafrika. Die Geschichtsschreibung führte diese Vorgänge teilweise auf geschlossene ethnische Verbände mit dem Ziel der Invasion, der Ausbeutung und der ethnischen Säuberung zurück.



Peter Heather: Invasion der Barbaren. Stuttgart, 2011.

Der Historiker Peter Heather will aus den Geschehnissen der Völkerwanderungszeit Rückschlüsse auf das allgemeine Migrationsverhalten ziehen und zeigt in den ersten Kapiteln auch vielversprechende Ansätze zur Objektivierung dieser Migrations-Thematik. Das liegt vor allem an seiner fundierten Kenntnis dieser historischen Epoche.

Zu bemängeln ist aber, dass hier der Versuch unternommen wird, die damaligen Migrationsursachen allein durch historische Daten zu recherchieren, ohne auch nur mit einem Satz auf die allgemeinen Lebensumstände jener Zeit einzugehen. Nur beiläufig und mit größtem Widerstreben wird einmal ein Zusammenhang mit der Tatsache hergestellt, dass die Lebensgrundlagen damals noch auf dem Wanderfeldbau beruhten.
Gerade die angeblich reichen Länder unter imperialer römischer Herrschaft wurden von Epidemien heimgesucht, was sicher auch auf die unerfreulichen Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung zurückzuführen war.

Immerhin kann man dem Autor zugutehalten, dass er einen sozialen Aspekt unerfreulicher Lebensbedingungen nicht verschweigt. Dass nämlich auch in den barbarischen Gesellschaften an der Peripherie des römischen Imperiums die Sklaverei eine weit verbreitete Einrichtung war.


Peter Heather leistet hier auch einen Beitrag zur Offenlegung der Quellenlage zur Frühzeit der nordeuropäischen Völker. Das ist ein verdienstvolles Unternehmen; seine Behandlung der Gräberfunde im merowingischen Nordgallien gerät dabei etwas weitschweifig.

Über weite Passagen werden in diesem Buch schlüssige und wenig bekannte Informationen zu Ethnien und historischen Ereignissen der europäischen Frühzeit vermittelt.

So will ich den durch Quellenangaben belegten geschichtlichen Angaben des Autors gerne Glauben schenken.

Andererseits zeigt er sich auch als Anhänger eines typischen Historiker-Denkens - dass Entscheidungen von Eliten von unbedingter Relevanz für das historische Geschehen waren.


Doch gab es anscheinend tatsächlich eine barbarische Elite, die es verstand, ihre Lage im Verhältnis zu Rom strategisch richtig einzuschätzen.


Der Diskurs ist streckenweise stilistisch wenig überzeugend, weil er auf der Wiederholung eigentlich schon bekannter oder schon vorher breitgetretener Einzelheiten besteht; der Autor scheint denselben Sachverhalt dutzende Male zu wiederholen, vor allem in der zweiten Hälfte des Buches.
Gerade die letzten beiden Kapitel, die eigentlich eine Analyse und Synthese liefern sollten, sind kaum lesbar und ziemlich orientierungslos. Der Autor wird damit seinem Anspruch, einen Beitrag zur Migrationsforschung zu leisten, kaum gerecht.

Darüber hinaus ist es allerdings ein pikanter Stoff, den er duchpaukt - die germanischsprachigen Völkerwanderungen, die Europa grundlegend veränderten: "Vandalen und Alanen gründeten ein Reich in den reichsten Provinzen des ehemals römischen Nordafrika, die Sueben beherrschten Nordwestspanien, die Westgoten das südwestliche Gallien und das restliche Spanien, die Franken Nordgallien, die Burgunder Südostgallien, die Angelsachsen Britannien und die amalischen Goten Italien."


Allerdings liefert Peter Heather auch eine sehr erhellende Darstellung des Aufschwungs der Slawen in einem Raum, der zuvor einen Exodus dieser germanischsprachigen Stämme erlebt hatte.


Seine Darstellung wird auch dadurch verkompliziert, dass er dazu neigt, sich völlig gegensätzliche Standpunkte zu eigen zu machen, statt sie mit distanzierter Objektivität darzustellen.
Dadurch widerspricht er sich in seinem Redefluss oft selber, was zu einigermaßen verunglückten Konzepten führt.


Sein Konzept der Gruppenidentität widerspricht humanistischen Idealen eines friedlichen Zusammenlebens ... Schon die Bevölkerung der osteuropäischen Steppe sei durch die Goten unterworfen worden. Heather verknüpft diese Annahme mit den Begriffen "germanische Identität" und "Gruppenidentität [der Goten]".

Andererseits meint er, in barbarischer Zeit hätten sich die einzelnen Bevölkerungsgruppen und mehr noch Einzelpersonen, Gruppenidentitäten "als austauschbare Etiketten" "je nach Vorteilslage" zugelegt; das galt in besonderem Maße auch für die Führungseliten, die ziemlich rasch die Seiten wechselten.

Der rasche Zerfall der hunnischen Herrschaft sei darauf zurückzuführen, dass es keine "gemeinsame hunnische Identität" gegeben habe, sondern eben nur eine Usurpatoren-Mentalität "je nach Vorteilslage".

Offenbar nimmt Heather ernsthaft an, die Goten hätten eine solidere Gruppenidentität besessen als die Hunnen.


Ziemlich starrsinnig vertritt Heather auch das Konzept der Ablehnung von Invasions-Theorien.

Häufig ist im öffentlichen Diskurs eine Gleichsetzung von Migration und Invasion festzustellen; der Autor behilft sich, indem er die Existenz einer Invasion negiert.
Der eigentliche Unterschied besteht nur im Willen der Akteure: Migranten handeln unter Zwang, Invasoren üben Zwang aus.

Auch in diesem Punkt sind Heathers Auffassungen widersprüchlich. Er spricht sich gegen die Invasions-Hypothesen der alten Schule aus, hält aber selber an der Historiker-Ideologie von der Macht der großen Männer fest:
"Ein Großteil der Bevölkerung des barbarischen Europa hatte keine Möglichkeit, sein Schicksal mitzubestimmen, da die Entscheidung über eine Beteiligung an der Migration einer großen Gruppe allein in den Händen der Elite lag."

Dann hätten diese unfreiwilligen Migranten aber als militärstrategische Schachfiguren in einem Krieg gehandelt, dessen Ziel die Invasion war.
Ebenso unzulänglich wäre es, den Sachverhalt einer Invasion abzuleugnen, nur weil die sie umsetzenden Soldaten als Teil einer Befehlskette handeln.


Heathers Argumente zur Definition der Invasion beziehen sich ferner nicht auf die böse Absicht oder Strategie, sondern nur auf das Ausmaß ihrer Umsetzung.

Einmal argumentiert er, bei der gotischen Völkerwanderung habe es sich strukturell um Migrationen kleinerer Gruppen gehandelt, nicht um die Invasion großer Verbände, die mit Krieg und ethnischen Säuberungen verbunden waren. Nur waren solche Gruppen zu Zusammenschlüssen gezwungen, um sich gegen andere Volksgruppen mit wahrscheinlich ähnlichen Lebenskonzepten behaupten zu können.

Ein andermal argumentiert er, erfolgreich konnten bei Raubzügen nur zahlenmäßig starke Migrationsgruppen sein, "groß genug .., um die Ansässigen zu vertreiben".


Im Fall der das poströmische England einnehmenden Angelsachsen scheint Heather das Konzept der Invasion nur deshalb abzulehnen, weil diese ein plötzlicher, kurzzeitiger Vorgang sein müsse.

Die spätere, weit bekanntere Normannen-Invasion war hingegen ein sogenannter Elitetransfer einer kleinen Schicht aus König und Gefolgsleuten, was der Autor auch deutlich macht.


Einmal meint er, die über den Balkan irrenden Ostgoten seien eigentlich arme Bauern gewesen, dann aber, ihr Italienzug habe das Ziel gehabt, sich "auf Kosten Odoakers und des noch intakten römischen Steuersystems zu bereichern".
Migration, um an irgendwo akkumulierte Reichtümer zu gelangen, sei ein in dieser Zeit tief im Bewusstsein verwurzelter "Reflex" gewesen - die Frage ist, ob dieser zu gewinnende Reichtum real war oder ein bloßer Lockvogel.


Das Aufgebot größerer Volksmassen diente den verschiedenen Heerzügen dieser Epoche eigentlich nur zur Erlangung ausreichender militärischer Schlagkraft. Aber, um den Historiker-Konsens aufrecht zu erhalten, handelte es sich dabei natürlich nicht um Invasionen ...


Angesichts der Schwierigkeiten des Autors, hier einen eindeutigen Standpunkt zu beziehen, ist die Vergabe des deutschen Titels doppelt unglücklich. Die Originalausgabe hatte Peter Heather mit "Empires and Barbarians" (London, 2009) betitelt.



©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 1.6.2018