Karl Polanyi und der aufkommende Faschismus


Der Verdienst des Buches "The Great Transformation" von Karl Polanyi war, die Ursache der verheerenden Strukturen der Industriegesellschaft auf eine bestimmte Ideologie zurückzuführen.

Während ich gewohnt war, dies mit dem Untertanengeist feudaler Gesellschaftsordnungen in Verbindung zu bringen, sah Polanyi die Ursache im Ungeist der Grund- und Fabrikbesitzer des viktorianischen und vorviktorianischen Englands.


Dabei bleibt Polanyi's Haltung sehr ambivalent: er kritisiert die Marktideologie, bewundert aber die Maßnahmen der Regierungen, um sie durchzusetzen.

Er vertritt die sozialreformerische und sozialistische Position als gesellschaftliche Zukunft, zeigt aber auch Empathie für die der Marktwirtschaft vorangehende feudale Gesellschaftsordnung und "Regierungskunst" und sogar für die faschistischen Bewegungen.

"Unter den sehr verschiedenartigen Vorläufern des Faschismus finden wir die sogenannte Universalismusphilosophie eines Othmar Spann in Österreich, die Lyrik des Stefan George und die kosmogonische Romantik eines Ludwig Klages in Deutschland, den erotischen Vitalismus eines D.H. Lawrence in England und den Kult des politischen Mythos eines Georges Sorel in Frankreich."

Im 20. Kapitel "Geschichte als Triebwerk gesellschaftlicher Veränderungen" stellt Polanyi den Faschismus sogar als idealistisches System auf die Füße: die Aufgabenstellung des Faschismus "überschreitet den politischen und wirtschaftlichen Rahmen: sie ist sozialer Natur". Das kann nur als radikale Opposition zur Marktideologie gemeint sein ...


Damit ist seine Haltung sogar tri- oder polyvalent.
Und da weder der Sozialismus noch der Faschismus akzeptabel umgesetzt werden konnten, bietet er sogar Argumentationshilfen für die Ideologie des selbstregulierenden Marktes.

Er selbst befürwortet den gesellschaftlichen Interventionismus als Schutz gegen einen entfesselten Ökonomismus und Utilitarismus.


Wenige Andeutungen zur Ökologie werden stets auf die soziale Frage umgeleitet, aber auch Polanyi findet vordergründig keine Argumente für den kommunistischen Standpunkt: Er beruft sich in seinen Milieuschilderungen weniger auf Friedrich Engels als auf Harriet Martineau, eine viktorianische Vielschreiberin mit zeittypischer Tendenz zum Liberalismus. Ihre historische Glaubwürdigkeit ist außer durch ihren Beruf auch durch ihre Krankheiten, u.a. eine schon in früher Jugend einsetzenden Schwerhörigkeit, eingeschränkt. Sie war gleichzeitig eine der ersten Suffragetten, trat also für das Stimmrecht der Frauen ein.


Die Lektüre Polanyi's ist wegen seiner Bezugnahme auf reale Ereignisse fesselnder als die eines Fachbuches der Ökonomie und wohl auch differenzierter.

Der Diskurs des Werkes ist allerdings nicht sehr klar im Sinne einer didaktischen Darstellung oder eines Theoriegebäudes, sondern er beruht eher auf bestimmten, häufig wiederholten Thesen.

Eine allgemeine Theorie muss man sich ziemlich mühselig selber ausarbeiten.

Ich selbst wollte mir mit Hilfe dieses Buches Grundkenntnisse der Makroökonomie aneignen, aber obwohl "The Great Transformation" als Standardwerk der Sozialökonomie empfohlen wird, war Polanyi gar nicht als Wirtschafts- oder Sozialwissenschaftler ausgebildet.


Obwohl der Autor viel schärfere Standpunkte vertritt als die meisten heutigen Autoren, ist selbst Polanyi's Buch in großen Passagen noch bewusste Schönrederei der bis heute fortschreitenden heillosen Verhältnisse - das ist nicht bloß stilistische Unsicherheit!


Der aufkommende Faschismus

Der Feudalismus habe in der bürgerlichen Welt überlebt, indem er eine neue Aufgabe übernahm, die "der Eindämmung der verheerenden Auswirkungen der Mobilmachung von Grund und Boden" durch das Regulationsmodell der freien Marktwirtschaft. Damit konnte der Feudalismus gleichzeitig das nationalistische Ordnungskonzept für sich beanspruchen.


Gesellschaftlich untergruben "das Marktsystem" und das von ihm profitierende Bürgertum "Recht und Ordnung" und waren gleichzeitig anfälliger gegenüber Tumulten und Aufständen als das 'Ancien Régime'.

Als dessen Nachfolger wurde laut Polanyi der Bauernstand (eine äußerst irreleitende Formulierung) "Verteidiger von Besitzrechten" und gelangte in der Nachkriegszeit der 1920er Jahre sogar praktisch zur Regierungsgewalt. Damals habe man eher in einer "Diktatur der Bauernschaft" als in einer 'Diktatur des Proletariats' gelebt.
Polanyi jammert, das sei durchgesetzt worden, obgleich es "in keinem Verhältnis" zur geringen wirtschaftlichen Rolle der Urproduktion gestanden habe.

Paradoxerweise sollten Bauernrechte der infamen Marktideologie die Tür öffnen, die doch deren größter Feind ist.

Doch sehr bald habe "die Formierung des städtischen Kleinbürgertums" in den Sturmabteilungen der Faschisten "die Bourgeoisie aus der Abhängigkeit von der Bauernschaft" befreit.


Was waren die Ursachen für diesen sich zur Zeit mit ähnlichen Vorzeichen weltweit wiederholenden Prozess?

Zwar versuchte die publizistische Öffentlichkeit der 20er und 30er Jahre, das "Vertrauen auf den Weltmarkt" und eine Konsolidierung der Finanzökonomie als Gegenmittel gegen den Bellizismus neu aufzubauen. Statt dessen scheint aber die allgemeine Meinungsbildung einer wirtschaftlichen und kulturellen Autarkie den Vorzug gegeben zu haben; die Kriegserfahrungen einer plötzlichen Kappung des wirtschaftlichen Austausches lieferten dafür zusätzlichen Nährstoff.


Doch eigentlich sei die Militanz des Faschismus eine Panikreaktion gewesen auf die mögliche Erhebung der Massen gegen die marktwirtschaftlichen Prinzipien der "Vertragsfreiheit und der Heiligkeit des Privateigentums".

Gewaltherrschaft und Weltkrieg sollten also die 'Freie Marktwirtschaft' durchsetzen, wenn auch der von ihr profitierende Sieger sich dann auf der anderen Seite des Atlantiks befand [Kap.15].

"Wenn es je eine politische Bewegung gab, die den Erfordernissen einer objektiven Situation entsprach und nicht das Ergebnis zufälliger Ursachen darstellte, dann war es der Faschismus." Hier zeigt Polanyi seine schwammigste Physiognomie ...

Diese "objektive Situation" - nach Polanyi's Meinung übrigens auch die Ursache der sowjetischen Planwirtschaft - war die Weltwirtschaftskrise, also der Kollaps der (Welt-)Marktideologie.


Faschismus sei die endgültige "Reform der Marktwirtschaft" vermittels "Auslöschung aller demokratischen Institutionen".
Kennzeichnend war in allen Ländern die "stillschweigende Billigung" des faschistischen Umsturzes durch die Staatsmacht.


Scheingefecht
Landtagswahlen Rheinland-Pfalz, März 2016.


Die gesellschaftlichen Verbände (inklusive Arbeiterorganisationen und staatliche Institutionen) erwiesen sich als dermaßen schwach, dass sie jeweils von einer Handvoll schlecht bewaffneter und allein demagogisch motivierter Täter ausgeschaltet werden konnten.

Aus den damaligen Putschen lässt sich darüber hinaus eine charakteristische Schwäche des parlamentarischen Systems ableiten, das gewohnt ist, ein für die Bevölkerung lebenswichtiges Gemeinwesen in kurzfristigem Turnus mit immer neuen "Führern" auszustatten.


Polanyi vertritt die These, dass der Faschismus sich nur zufällig mit konservativ-nationalistischen Forderungen verbünde. Sein eigentliches Ziel ist also die ökonomische oder Markt-Kontrolle.

Diesen Zusammenhang stellt auch die AfD demonstrativ her, indem sie sich zum bedingungslosen Vertreter der deutschen Autoindustrie erklärt, mit der Deutschland die Weltmärkte erobere. Dadurch hofft sie, die CDU/CSU von ihrem Stammplatz als Autoverkäufer der "freien Marktwirtschaft" zu verdrängen.


Eine traditionelle Nähe von Liberalen und Faschisten entstand nicht nur in Österreich.

"Somit wurde der Sieg des Faschismus durch den Widerstand der Liberalen gegen jegliche Reform, die Planung, Regelung und Kontrolle beinhaltete, praktisch unvermeidlich."

Da eine komplexe Gesellschaft ohne Planung und Kontrolle eine "illusionäre Vorstellung" bleibe, wurde die Ableugnung der "Idee der Freiheit" durch die Faschisten zu einer scheinbar realen Perspektive!
In seinem Inneren kann auch der praktizierende Faschist der Idee der Freiheit huldigen - allerdings auf Kosten Anderer, die jeweils durch die Doktrinen der Staatsmacht festgelegt werden.

Die Politik gegen jede "Planung, Regelung und Kontrolle" der Wirtschaft wurde traurigerweise unter der Regierung Gerhard Schröders auch für das 21. Jh. gesellschaftsfähig gemacht, da es im öffentlichen Raum immer genug Leute gibt, die sie als überwältigenden Erfolg darstellen.


Die Nähe des Wirtschaftsliberalismus und des Faschismus beruht vor allem auf der Hartnäckigkeit, mit der beide auf simplen, aber unhaltbaren Doktrinen beharren, zu welchen auch die folgenden gehören:
NUR DIE FREIE WIRTSCHAFT KANN EUCH VOR DEM FASCHISMUS RETTEN!
NUR DER FASCHISMUS KANN EUCH VOR DER FREIEN WIRTSCHAFT RETTEN!


Quellenangaben:
Karl Polanyi: The Great Transformation [1944] - Politische und Ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Übersetzung von Heinrich Jelinek [1977]. 12. Aufl., Frankfurt/ M., 2015.



©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 20.5.2020