Bei der Lektüre der zeitgenössischen Literatur - nicht nur der Belletristik - vermisse ich oft das nötige Maß an Realismus. Doppelt wertvoll sind Autoren, die ihr Leben in einem fremden Land beschreiben, wie es Chen Jo-hsi in "Die Exekution des Landrats Yin" tut.
Die Autorin Chen Jo-hsi hat mit einem gewissen Humor den chinesischen Alltag während der Kulturrevolution beschrieben. Doch scheint ihr dies erst nach Verlassen des Landes möglich gewesen zu sein, während hunderte Millionen anderer Chinesen verstummten.
Hier erfährt man, wie es in den alten Zeiten auch den willigsten Volksgenossen ergehen konnte. Heute haben die chinesischen Herrscher allerdings mit durchschlagender Wirkung die Methoden des Westens übernommen.
Textprobe:
"Während er so verwirrt dastand, sagte einer der
Umstehenden zu ihm: «Sie scheinen die Regeln nicht zu kennen.
Vor dem Besuch ausländischer Gäste wird von den guten
Sachen nichts verkauft. Wir warten alle, bis die Fremden wieder
abgereist sind, und dann sehen wir zu, daß wir von den
Spezialitäten noch etwas abbekommen!»
«Man kann auch kaufen, ehe die ausländischen
Besucher kommen», sagte jemand sarkastisch und im Ton eines
Eingeweihten. «Allerdings muß man die Sachen wieder
zurückbringen. Als neulich Prinz Sihanouk nach Nanking kam,
hatte man sogar Truthähne von irgendwoher herbeigeschafft.
Einer meiner Nachbarn hatte noch nie einen Truthahn gesehen, er ging
hin und kaufte aus purer Neugierde einen. Aber damit kam er nur bis zum
Hinterausgang des Marktes. Da wurde er wieder zurückgeschickt.
Später hieß es, man habe den Verkauf mit
fünf Truthähnen begonnen und nach zwei Tagen
lebhaften Verkaufs immer noch fünf Truthähne
gehabt!» "
Auch bei Windows, Linux und im Internet sind die meisten Dinge wie hier die Truthähne nur für 'ausländische Gäste' von Wert !
Das Ullstein-Taschenbuch ist mit einem lesenswerten Nachwort
ausgestattet, in dem es z.B. heißt, dass "die Abkehr vom
'Sozialistischen Realismus' .. in den späten
fünfziger Jahren begann und während der
Kulturrevolution ihren Höhepunkt erreichte (Anm. 8)". Denn die
Beschreibung der Wirklichkeit wäre einer Verleumdung des
'großen sozialistischen Vaterlandes' gleichgekommen ...
Statt dessen wurden in der Chinaoper die Heroen der Ideologie
verherrlicht so wie in den Krimis der westlichen Welt die
Ordnungskräfte, Winner und Besserverdiener.
[Chen Jo-hsi: Die Exekution des Landrats Yin. Erzählungen aus der Kulturrevolution. Ullstein-Tb., Frankf./M., 1982.]
Die Autorin hat dieselben Erfahrungen auch in einem Roman verarbeitet, der auf deutsch im Horlemann Verlag in Unkel erschienen ist.
© Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 17.3.2009; korr. 2.9.2014.