Zweifellos wächst der Reis und das Brotgetreide auf dem Lande, aber Geld verdienen kann man eher in der Stadt, wo viele Menschen aufeinanderhocken. Aus diesem Grunde gelten Städte wie Bombay als die Motoren der Volkswirtschaft.
Sicher soll das viele hundert Seiten dicke Buch vor allem den Menschen in Bombay schildern,
doch durch diese Oberfläche des Allzumenschlichen blitzt zuweilen so etwas wie Konfusion und
Entsetzen des Autors auf.
Anfangs scheint er viele Hoffnungen auf seine Rückkehr in diese Stadt zu setzen, am Ende des
Buches ist aber eher etwas von einem endgültigem Abschied von Bombay zu spüren.
Hervorzuheben ist der flüssige und präzise Schreibstil Mehtas, der keine Langeweile aufkommen lässt.
Allerdings beweist auch Suketu Mehta mit diesem Buch eine weit verbreitete Neigung zur Halbwelt, die selbst die allerlangweiligsten Fürze kennzeichnet. Zur Halbwelt gehört neben der Unterwelt natürlich auch die Scheinwelt der billigen Vergnügungen.
Alle Bewohner Südasiens verschmähen nach Überzeugung des Autors den Realismus der
westlichen Filmkultur.
Sie brauchen statt dessen die Realitätsferne der indischen Schmonzette mit
Liedeinlagen, die der ganzen Familie zuzumuten sei. Es dürfe zu keinerlei abweichenden
Handlungen kommen, sonst fange das Publikum an zu randalieren.
Wer glaubt, etwas Reelles über Bombay erfahren zu können, wird von der Mitte des Buches an ein
langes Gesicht machen müssen: hier geht es ausschließlich um die Werte von Bollywood - um
eine Scheinwelt ...
"In diesem Teil der Welt sind die Menschen bereit, für eine Lüge zu sterben." schreibt Mehta.
Aber das sind die Leute im Westen ja auch, jenseits der Virtualität der technischen Herstellung von Unterhaltung muss es irgendwann einmal zu einem bösen Erwachen kommen.
Die Beschreibung der kontrastierenden Wirklichkeit kommt in diesem Buch zu kurz. In dieser Hinsicht hatte das schmale Rowohlt-Taschenbuch mit Interviews von Barbara Malchow/ Keyumars Tayebi "Menschen in Bombay - Lebengeschichten einer Stadt" größeren Gehalt; es ist allerdings schon vor dreißig Jahren (1986) erschienen. Dort wird beispielsweise erwähnt, dass in den Slums Futterklee als Gemüse verwendet wurde.
Nach dem angesprochenen Hauptteil über Stars und Sternchen in Suketu Mehtas Buch folgen einige recht kurze Impressionen dieser Realität, die sich in einer anderen sozialen Ebene abspielt als der des Autors. ... beispielsweise die Beschreibung der beschissenen und verlausten Atmosphäre einer Hochzeit auf dem Lande.
Für das Verstehen Indiens ganz wichtig ist die Beobachtung des Autors, die kleinste Enklave sei hier die Großfamilie (- die zusammengepfercht in einem Verschlag haust -), es gebe keine Enklave für das Ich. - Indien zählt auch in Bombay noch zu jenen Regionen, in denen Klan-orientierte, arrangierte Ehen den Weg zu einem kontinuierlichen hohen Bevölkerungszuwachs ebnen.
Ich möchte aber hinzufügen, dass es eine Anpassung der indischen Gesellschaft an die Übervölkerung gegeben hat - in den Mitgift-Gebräuchen ... ! Wenn in den archaischen Gesellschaften und Ethnien noch für eine Braut als Stammmutter künftiger Generationen ein hoher Brautpreis gezahlt wurde, so wird in der heutigen indischen Gesellschaft sogar schon frühzeitig gespart, um die Töchter mit Hilfe einer Mitgift rasch aus dem Haus zu bekommen!
Die Verlässlichkeit der Beziehungen jenseits der Familie, die reellen ökonomischen Strukturen des Dorfes gehen im Stadtleben - auch in Bombay - verloren. Man kann vermuten, dass es der Wunsch nach sozialem Aufstieg war, der die Menschen vom Lande in die große Stadt getrieben und dort zum völligen Verlust menschenwürdiger Strukturen geführt hat. Der Autor erkennt im Geld das Ziel und Agens des Lebens in Bombay.
Das Besondere der Menschen in Indien ist ihre Flexibilität. Doch diese wird auch in Bombay durch die öffentlichen Verkehrsmittel bis zur Grenze des Erträglichen belastet: In Indien gebe es Gesetze über die zulässige Kapazität von Viehwaggons, aber kein Limit für die Kapazität von Nahverkehrszügen, die häufig mehr als ein Dutzend Menschen pro Quadratmeter transportieren müssen.
In Mehtas Buch wird kaum die industrielle Grundlage Bombays berücksichtigt; anfangs Zentrum der Textilmanufaktur für den Export nach Europa ist es heute wichtigster Chemie- und Pestizid- Produzent Indiens.
Die unerschöpflichen Reserven an Arbeitskräften, die auch kaum durch Reinigung der Abwässer und Abgase geschont werden müssen, ermöglichen systematische Unterbezahlung. Und doch meint Mehta, dass die Textilindustrie Bombays unter globalökonomischen Gesichtspunkten keine Zukunft mehr habe.
Bombay hat ein Immobilien-Problem; seit vielen Generationen lebt ein bedeutender Teil seiner Bevölkerung auf der Straße. Diese Verhältnisse wurden durch die Tatsache potenziert, dass die Mieten nach dem Krieg per Gesetz auf den Stand von 1940 eingefroren wurden; den Mietern kann praktisch nicht gekündigt werden. Als Folge werden keinerlei Reparaturen vorgenommen und ziehen es viele Immobilien-Eigentümer vor, ihre Wohnungen leer stehen zu lassen.
Man muss sich eine Stadtzivilisation ohne funktionierendes Trink- und Abwassersystem
vergegenwärtigen; das Wasser muss unbedingt vor jedem Verzehr abgekocht werden. Immerhin wird aber Wasser für viele Millionen Menschen von weit her herangeschafft.
Aus diesen Verhältnissen bezieht aber offenbar ein Heer kleiner Dienstleister seinen Lebensunterhalt
und scheint deshalb nicht wirklich an einer Verbesserung der Infrastruktur interessiert zu sein.
Die Leute in den Slums - also mehrere Millionen Einwohner Bombays - müssen mit etwa einem
Eimer Wasser pro Tag auskommen (für Waschen, Kochen und Trinken).
Wenn 5 Millionen Menschen im öffentlichen Raum ihre Notdurft verrichten müssen, dann sammeln sich dort täglich 5000 t Faeces an ...
Das schlechte Wasser und das schlechte Essen mache die Menschen in Bombay und in Indien krank.
Realität ist in Bombay auch Kriminalität als Lebensform, der der Autor gleich am Anfang des
Buches größeren Raum einräumt.
Eine Einnahmequelle sogenannter Slumlords ist beispielsweise, auf Privatland Slumbehausungen
zu errichten und für viel Geld an die Armen zu verkaufen.
Eine entscheidende Rolle bei der Brutalisierung der Unterwelt scheint die nationalistische Shiv
Sena gespielt zu haben. Doch Michael Jackson verspricht seine indischen Konzerteinnahmen einer Jugendorganisation der
Shiv Sena und besucht ihren Chef Thackeray.
Dieser baut die angebliche Einwanderer-Flut aus Bangladesh als muslimisches Feindbild auf.
Nach antimuslimischen Massakern in Bombay erfolgten 1993 Bombenanschläge auf Veranlassung des in Dubai (später in Karachi) residierenden muslimischen Gangsterbosses Dawood Ibrahim. Denn gegen die Akteure der hindu-nationalistischen Ausschreitungen war nichts unternommen worden - oder die Polizei steckte selbst hinter ihnen ...
Hieraus entwickelte sich ein permanenter Krieg zwischen muslimischen und hinduistischen Banden.
Nach dem Anschlag auf das World Trade Center kam es zu Spekulationen über die angeblichen
Beziehungen Dawood Ibrahims sowohl zur Al Qaida als auch zum permanent Indien-feindlichen
pakistanischen Militärregime.
Auch bei Mehta das alte Lied von den "brutalen Verhörspezialisten", die im Privatleben so wunderbar normal und umgänglich sind.
Doch in den Banden geht es um das Töten als Lebenselixier: nicht nur als Haupteinnahmequelle, sondern auch als Passion - verbunden mit regelmäßigem Gebet oder häufiger Puja und Pilgerfahrten.
Meiner Meinung nach wird ein nicht völlig zutreffendes Bild dieses Konfliktes in Bombay gegeben: die Muslime bilden hier keineswegs eine so bedeutende Bevölkerungsgruppe wie der Text glauben machen will; ihr spektakulärer, gewalttätiger und krimineller Aktivismus muss tatsächlich als eine Verzweiflungsstrategie mit dem Rücken zur Wand gegen eine zahlenmäßig vielfach überlegene und von gewissenlosen Politikern aufgestachelte Hindu-Bevölkerung aufgefasst werden.
De Facto kann dieser Religionskrieg auch als Konkurrenzkampf zwischen irregeleiteten Prolos aufgefasst werden. Bombay ist eine kosmopolitische Stadt; das bedeutet aber auch, dass die lukrativen Bereiche der Wirtschaft nicht in den Händen der einheimischen Marathen liegen; diese schieben die Schuld an ihrer misslichen ökonomischen Lage auf einen muslimischen Sündenbock.
Die Schilderung einer 'diksha'-Zeremonie von unermesslich reichen Diamantenhändlern, die nach dem Verteilen ihres Besitzes als jainistische Bettelmönche der Welt entsagen wollen, schließt das Werk ab; Bombay ist für die echte Jaina-Kultur der verbotene "Ort der Sünde".
Vor allem vom ökonomischen Aspekt her ist das Ritual des Verteilens des Besitzes beeindruckend. Dass sich Jainas im Diamantenhandel engagieren, hängt vielleicht damit zusammen, dass beim Umgang mit Diamanten eine relativ geringe Gefahr besteht, Lebewesen zu töten.
© Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 7.10.2010