zur Startseite



Aus der Welt des Totalitarismus






Aggressionstriebe nach Erich Fromm



Milieutheorien und Neo-Behaviorismus


Das menschliche Verhalten wird nach der Milieutheorie nicht durch angeborene, sondern "durch soziale und kulturelle Faktoren" geprägt, auch in dem Sinne, dass beispielsweise in einem Menschenfresser-Milieu "soziale und politische Veränderungen" eine Notwendigkeit wären [Fromm 1977, Teil I-2].

Nach der Milieutheorie ist Verhalten also kein Reflex, sondern eine Reaktion, ein Affekt auf die Mitwelt, wobei man vielleicht den ökologischen Aspekt nicht völlig ausschließen sollte.

Nach der Theorie des Behaviorismus (begründet durch J.B. Watson) könnte dagegen umgekehrt auch die Gesellschaft als Milieu verändert werden durch die "Manipulation des Menschen" [Fromm 1977, Teil I-2].

Allgemeine Beachtung fand die Theorie erst seit den 1950er Jahren durch die Arbeit von B.F. Skinner, den 'Neo-Behaviorismus'. Skinner postulierte, für das Verstehen menschlichen Verhaltens seien nicht die Absichten, sondern die Verstärkerwirkungen ('reinforcements') ausschlaggebend.

Skinners experimentelle 'reinforcements' appellierten in der Praxis allerdings ausschließlich an den Eigennutz, somit also doch an Absicht und Zweck.

Zu solchen zielbewussten ‘reinforcements’ können sich sehr leicht auch Elemente des gesellschaftlichen Drucks oder des Terrors entwickeln.


Ebenso wie eine Versuchsanordnung von Psychologen würde ihr Gesellschaftskonzept darauf beruhen, dass auf die zu manipulierenden Subjekte irgendein unentrinnbarer Zwang ausgeübt wird.
Im reellen Leben der sogenannten ‘freien Welt’ waren das Hierarchien, Verträge und manifeste Strukturen, in Russland ewiger Staatsterror und in anderen Ländern eine Religion der Gewalt.


Vorläufer des angewandten Behaviorismus gab es in den USA schon vor dem 2. Weltkrieg: den Fordismus und die Euthanasie-Gesetze.

Auch in den USA wurde also seit dem frühen 20. Jh. als politisches Ziel die Funktionalisierung des Menschen angestrebt, anders als in der Sowjetunion aber nicht nur in gesellschaftlichem Sinne, sondern auch in unternehmerischem Sinne.



Charakter versus Milieu

Skinners Psychologie habe allein der Tat oder dem Verhalten und nicht dem Täter Beachtung geschenkt. Aggression und Verhalten sind angelernt "als erfolgreiche Methode zur Erlangung dessen, was man haben möchte" [Fromm 1977, Teil I-2].

Die gesamte gesellschaftliche Orientierung der 50er Jahre zielte auf gewünschte Verhaltensweisen ab.
Dieser Eindruck wird noch durch gewisse psychologische Experimente verstärkt, die seinerzeit angestellt wurden. Am bekanntesten wurde Stanley Milgrams "Behavioral Study of Obedience" an der Yale-Universität.

In solchen Experimenten konnte die Mehrheit der Versuchspersonen dazu gebracht werden, beispielsweise grausam zu handeln, um gehorsam zu sein. Dieser Gehorsam ist "hochgradig pathologisch" (P.G. Zimbardo).

Dennoch konnten "persönliche Überzeugungen und Wertbegriffe", also das Gewissen, nicht völlig ausgeschaltet werden. [Fromm 1977, Teil I-2]


Ein schlechtes Gewissen ist andererseits ein weiteres Mittel, um Menschen einem Aggressor gefügig zu machen.
Es entstand der Eindruck, dass hier die Psychologen oder Wissenschaftler selbst als Aggressoren handelten, und dass die Versuchsanordnungen auf "jämmerliche" und traumatisierte Opfer abzielten.


Starke persönliche Überzeugungen können auch eine Hilfe gegen derartige Aggressoren sein, wie Erich Fromm am Beispiel der politischen Gefangenen und der Zeugen Jehovas in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern aufzeigt. Je stärker ausgeprägt eine Charakterstruktur ist, desto weniger Einfluss hat ein Milieu.

Die umgekehrte Theorie beinhaltet jedoch, dass die Frustationen, die das Milieu einem von Leidenschaften geprägten Charakter bereitet, Ursache von Aggression werden.
Warum gibt es dann Menschen, die Frustationen erleben, ohne darauf aggressiv zu reagieren? - Ihre Charakterstruktur könnte stärker durch Rationalität gebildet worden sein.




Entstehen einer Aggressionskultur


"Individuen und Gruppen können eine Charakterstruktur besitzen, aus der heraus sie begierig auf Situationen warten - oder sie auch künstlich herbeiführen -, die es ihnen erlauben, ihrer Destruktivität Ausdruck zu geben." [Fromm 1977, Teil III-9]


Fromm befand, dass die Befunde die Hypothese eines "spontanen, sich selbst antreibenden Aggressionstriebes" nicht stützen [Fromm 1977, Teil II-5].

Dann wäre die menschliche Aggressivität und Destruktivität, wenn nicht auf eine individuelle Psychopathologie, auf kulturelle Vorbedingungen zurückzuführen.

Man muss selbst die christliche Vorstellung von der 'Erbsünde' nicht unbedingt als angeborene Eigenschaft identifizieren; die Erbsünde könnnte auch kulturell vererbt sein.


"Habgier, Neid und Ausbeutung" könnten als individuelle Normabweichungen auftreten, andererseits aber auch zur Norm bestimmter kultureller oder sozialer Strukturen gemacht werden [Fromm 1977, Teil II-8].

Zu beobachten sei auch eine Relativierung der Härten von Kriegen durch den Reiz des Abenteuers und die Abmilderung von Klassenstrukturen [Fromm 1977, Teil III-9].
Fromm sah in der Ödheit der bürgerlichen Zivilisation eine Ursache dafür, dass sich Menschen für den Krieg begeistern.


Gesellschaftlichen Zwängen wurde überhaupt nachgesagt, zu Aggressionen zu führen. Doch auch gesellschaftliche Gewohnheiten wie die folgenden könnten zu diesem Ergebnis führen.



Fleischfresser-Psychologie

Nicht wenige Anthropologen haben behauptet, dass sich die "Psychologie des Fleischfressers" schon vor mindestens 0,5 Mio. Jahren entwickelt habe [Fromm 1977, Teil II-8].

Mit diesem Argument lässt sich Aggression als eine für Fleischfresser notwendige Verhaltensweise begründen. Die Infamie dieser Argumentation liegt aber darin, dass sie sich letztendlich unzweifelhaft auf Menschenfresserei bezieht.

Washburn und Lancaster [in: Lee/ DeVore (ed.s): Man the Hunter. Chicago, 1968.] stellten Krieg als kulturelle Fortführung der Jagd und als Institution dar.

Krieg wäre somit ein "normaler Bestandteil" des sozialen Lebens und der Charakterbildung und sogar ein Vergnügen "für die daran beteiligten Männer" [Fromm 1977, Teil II-8].

Die Verhaltensmuster der Jagd und des Tötens seien schon in der Kindheit leicht zu erlernen und verschafften (über das Barbecue) rasche Befriedigung.


So wie die eigentliche Jagd zur Subsistenzsicherung eine Methode der Problemlösung sein kann, könnte dasselbe auch für Gewaltanwendung und kriegerische Aggression gelten.
Für die Jagd zur Subsistenzsicherung typisch und auch notwendig wären Kooperation und das Teilen der Beute.
Mit Hobbes wurden allerdings dem Naturzustand des Jägers "Destruktivität, Grausamkeit und unsoziales Verhalten" zugeschrieben [Fromm 1977, Teil II-8].


Erich Fromm verknüpft hingegen ein Erziehungsmuster Fleischfresser - Jagd - Krieg mit dem Sadismus des frustrierten Menschen in der Zivilisation. Er räumt auch ein, dass der Sadist ein schlechter Waidmann wäre [Fromm 1977, Teil II-8].

Bei Kindern bestehe ein Interesse daran, sozial akzeptierte Handlungsweisen und Geschicklichkeit in bestimmten Fertigkeiten zu erlernen, nicht primitive Verhaltensmuster.

Die Vereinfachung auf jene letztere Art ist hingegen das Prinzip der Machteliten.

Eine Ideologie des naturbedingten Krieges wäre die infamste Stufe der Vereinfachung.


Nach Fromm sollen die frustrierten Unterschichten mit sadistischen Gladiatorenkämpfen und Kriegen entschädigt werden und die ständig von ihrem schlechten Gewissen bedrohten höheren Klassen durch Elite-Jagden beruhigt werden.
Man fragt sich, ob Menschen mit diesen Ersatzleistungen sehr glücklich werden können ...



Enthemmung

Konrad Lorenz habe argumentiert, dass Menschen "im Gegensatz zu den Raubtieren keine instinktiven Hemmungen gegen das Töten von Artgenossen" besitzen; diese Hemmung sei wegen ihrer körperlichen Schwäche entwicklungsgeschichtlich nicht notwendig gewesen, bis sie künstliche Waffen erfanden [Fromm 1977, Teil II-6].
Die aggressiven Technologien der Menschheit stellen einen Akt der Enthemmung dar.


In fast allen Kulturen wird durch Töten von Artgenossen ein Schuldgefühl erzeugt, das durch gewisse Rituale oder Ideologien kompensiert werden soll. Die wichtigste Ideologie ist die Einteilung der Menschheit in die eigene Gruppe und in fremde Gruppen. [Fromm 1977, Teil II-6]

Bei "primitiven Völkern" sollen oft schon Menschen aus dem Nachbardorf oder Mitglieder eines anderen Stammes nicht mehr als gleichartige Wesen akzeptiert werden [Fromm 1977, Teil II-7].

Die Aufhebung der Trennung zwischen isolierten Populationen sei "erst im Prozeß der sozialen und kulturelle Evolution" möglich geworden.

Diesem Befund steht die überlieferte Gastfreundschaft der "Wilden" den europäischen Entdeckern gegenüber, die aber nach einiger Zeit aus unbekannten Gründen oder wegen der Gier und Undankbarkeit der Weißen in erbitterte Feindschaft umschlagen konnte.


Das instinktive Erkennen von Artgenossen wurde beim Menschen durch kulturelle Evolutionsstränge in Bezug auf Sprache, Kleidung, Lebensunterhalt u.a. überdeckt.


Die Massaker von My Lai, Vietnam und im Gefängnis von Attica, New York beruhten seinerzeit darauf, dass Angehörige der us-amerikanischen Exekutive ihre Opfer nicht als Menschen, sondern als "den Feind" betrachteten oder betrachten sollten [Fromm 1977, Teil II-6].



Hierarchie durch Unterwürfigkeit

Anhand einer Untersuchung zu in Gefangenschaft lebenden Pavianen wird von E. Fromm nahegelegt, dass Hierarchien hauptsächlich durch Unterwürfigkeit aufrechterhalten werden und nicht durch die Aggressivität der Ranghöheren [Fromm 1977, Teil II-6].


Bei einer Haltung im Zoo, die mit den zivilisatorischen Bedingungen vergleichbar sei, werde Aggression weniger durch die extreme Begrenzung des Lebensraumes ausgelöst als durch den "Zusammenbruch der sozialen Struktur" in der Haltungsgemeinschaft.

Dabei bleibt aber Fromms Erläuterung dieses Prozesses sehr verschwommen. Wahrscheinlich entwickelt sich in sehr funktionalisierten und beengten Verhältnissen, die außerdem sehr stark durch Tierpfleger modifiziert werden, eine 'asoziale Struktur' ...


Erich Fromm behauptet: "Eine Analyse der historischen Entwicklung der Gesellschaft, in der fünf- oder sechstausend Jahre lang die Mehrheit von der herrschenden Minorität ausgebeutet wurde, zeigt deutlich, daß die Dominanz-Unterwürfigkeits-Psychologie eine Anpassung an die soziale Ordnung und nicht ihre Ursache ist." [Fromm 1977, Teil II-8]

Die Frage ist natürlich, was hat diese soziale Ordnung hervorgerufen, könnte die Ursache vielleicht doch gewalttätiges Verhalten (oder strukturelle Gewalt) gewesen sein?


Ursprüngliche Gesellschaften beruhten auf 'rationaler Autorität' auf Grundlage von Kompetenz ohne Ausbeutung, die "neuen patriarchalischen Systeme" der mesopotamischen Stadtstaaten beruhten auf 'irrationaler Autorität' auf Grundlage "der psychischen Mechanismen von Angst, Ehrfurcht und Unterwerfung" [Fromm 1977, Teil II-8].


In der ursprünglichen Gesellschaft sei Dominanz durch hervorragende Eigenschaften herbeigeführt worden [Fromm 1977, Teil II-6], nach nicht wenigen Quellen aber auch durch außerordentliche Aggressivität.
Durch die Institutionalisierung der Dominanz in komplexen Gesellschaften seien die außergewöhnlichen Eigenschaften höherer Rangstufen nicht mehr unbedingt notwendig.

Diese Gesellschaftssysteme seien darauf ausgerichtet, "den Fluchtinstinkt des Menschen zu unterdrücken", indem Konventionen wie die Ehrfurcht vor einem Führer und vor irgendwelchen aggressiven gesellschaftlichen Zielen aufrechterhalten werden - entweder durch Terror oder durch Betäubungsmittel! [Fromm 1977, Teil II-5]

Durch unvernünftigen Kadavergehorsam wird also eigentlich der Selbsterhaltungstrieb unterdrückt.




Einzel-Kapitel, aus denen zitiert wird

Quelle: Erich Fromm: Anatomie der menschlichen Destruktivität. Reinbek, 1977 (Taschenbuch; amerikanische Originalausgabe 1973).


Einleitung - Die Instinkte und die menschlichen Leidenschaften

I - Instinktivismus, Behaviorismus, Psychoanalyse
1. Instinkt- und Trieblehren
2. Die Vetreter der Milieutheorie und die Behavioristen
3. Triebtheorien und Behaviorismus: Ihre Unterschiede und Ähnlichkeiten

II - Befunde, die gegen die die Thesen der Instinkt- und Triebforscher sprechen
5. Neurophysiologie
6. Das Verhalten der Tiere
7. Paläontologie
8. Anthropologie

III - Die verschiedenen Arten der Aggression und Destruktivität und ihre jeweiligen Voraussetzungen
9. Die gutartige Aggression
...




©  Stephan Theodor Hahn, Bad Breisig, am 11.6.2024